Active is: Die Geopolitik im Blick haben

Ergebnisse der Europawahlen bringen Entlastung - vorerst

28.05.2019
Wähler bei der Europawahl

Zusammenfassung

In vielen EU-Ländern stimmten die Wahlberechtigten pro-europäisch ab. Dennoch wird das Ergebnis wahrscheinlich ein stärker fragmentiertes Europäisches Parlament sein, was zu einer langsameren Entscheidungsfindung führen kann. Die größte Herausforderung für die europäischen Staats- und Regierungschefs könnte die zunehmende Polarisierung der Wählerschaft sein.

Kernbotschaften

  • Die Unterstützung für die proeuropäischen Mainstream-Parteien setzte sich fort. Der befürchtete starke Zuwachs populistischer und euroskeptischer Parteien ist ausgeblieben.
  • Das Europäische Parlament wird wahrscheinlich stärker fragmentiert sein, wobei die kleineren Parteien - unabhängig von ihrer politischen Überzeugung - einen größeren Einfluss bei der Bildung von Bündnissen haben werden.
  • Die größte Herausforderung für die europäischen Staats- und Regierungschefs könnten die zunehmend polarisierten nationalen Wähler sein.
  • Ein starker Anstieg der Grünen zeigt, dass sich die Bürger zunehmend auf klimabezogene Themen und Politiken konzentrieren – ein wichtiger Indikator für ESG-Investoren.
  • In Zukunft dürften die Renditeaufschläge (Spreads) von Staatsanleihen am empfindlichsten auf zunehmende politische Unsicherheit und Risiken reagieren, einschließlich kurzfristig angesetzter Wahlen.

Erste Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament deuten darauf hin, dass sich die proeuropäischen Mainstream-Parteien weitgehend behaupten konnten. Der befürchtete deutliche Zuwachs der populistischen und euroskeptischen Parteien ist ausgeblieben. Die großen zentrumsorientierten Parteien haben jedoch deutliche Verluste erlitten, da Liberale, Grüne und Populisten im Gegenzug an Boden gewonnen haben. Der starke Zuwachs der Grünen in einer ganzen Reihe von Ländern spiegelt die größere Bedeutung wider, die den Umweltfragen beigemessen wird. Dies wir begleitete von den Fortschritten der Grünen Parteien in den nationalen und lokalen Regierungen in ganz Nordeuropa.

Die Ergebnisse kamen mit der höchsten Wahlbeteiligung seit 1994 zustande. Voraussichtlich wird sie die 50%-Marke übersteigen – zum ersten Mal seit der ersten Europawahl 1979. Dieses Ergebnis unterstreicht die Bedeutung der Ergebnisse und ist ein guter Indikator für die demokratische Stärke und Legitimität des Europäischen Parlaments.

Während die Mainstream-Parteien nach wie vor die stärkste Kraft sind, könnte das Ergebnis zu einem stärker fragmentierten Europäischen Parlament führen, in dem die kleineren Parteien – unabhängig von ihrer politischen Überzeugung – einen größeren Einfluss haben. Die traditionellen Blöcke, auch wenn sie wahrscheinlich noch in der Mehrheit sind, müssen nach neuen Bündnissen suchen. Die kleineren Parteien können eine entscheidende Rolle bei dieser Bündnisbildung spielen.

Zunehmend polarisierte Weltanschauungen

Das Europäische Parlament als Mitgesetzgeber neben dem Europäischen Rat1 hat bei rund 90 % der Gesetzesvorschläge eine entscheidende Stimme. Hierzu gehören auch Binnenmarktfragen und Handelsabkommen. Es wählt auch formell den nächsten Präsidenten der EU-Kommission, der vom Rat ernannt wird.

Ein stärker fragmentiertes Parlament könnte die mehrheitliche Politikgestaltung auf EU-Ebene komplizierter und weniger berechenbar machen, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem die EU in Bereichen wie dem Handel eine starke und stringente Haltung einnehmen muss.

Diese kompliziertere parlamentarische Dynamik wird jedoch vielen europäischen Staats- und Regierungschefs bekannt vorkommen, da sie diese stärkere Polarisierung auch von ihren eigenen nationalen Wählern kennen dürften. Denn die Europawahlen bestätigen den Trend, den wir bei den letzten Parlamentswahlen in Ländern wie Frankreich, Italien und Deutschland erlebt haben: die Wahlen werden auch zum Protest genutzt.

Politische Unsicherheit bleibt bestehen

Die Wahl-Ergebnisse verdeutlichen erneut, dass die europäischen Wähler zu einem für die Region kritischen Zeitpunkt weiterhin gespalten sind. Nach sechs Jahren anhaltenden Wachstums hat sich die Wirtschaft des Euroraums aufgrund der schwächeren Auslandsnachfrage und einiger länder- und branchenspezifischer Faktoren – wie z.B. Umwälzungen in der deutschen Automobilindustrie, den Gelbwesten-Proteste in Frankreich und der zunehmenden politischen Unsicherheit in Italien – abgeschwächt.

Während das BIP-Wachstum fast ausschließlich von der Inlandsnachfrage bestimmt wird, bleiben die fundamentalen Rahmenbedingungen für den privaten Konsum und die Investitionen vorerst solide, abzulesen z.B. an den günstigen Arbeitsmarktdynamiken und Finanzierungsbedingungen. Allerdings hängt der künftige Fortschritt auch von einem stabileren politischen Umfeld ab, das für das Wachstum notwendig ist.

Viele europäische Staats- und Regierungschefs werden erleichtert sein, dass die populistischen Parteien nicht stärker geworden sind; die Anti-EU-Bewegung hat nicht die befürchtete kritische Masse erreicht, um echte Probleme zu verursachen. Die Ergebnisse zerstreuen jedoch nicht die politische Unsicherheit, die in Europa deutlich geworden ist. Länderspezifische politische Risiken in Mitgliedsstaaten wie Italien sind bereits gut erkennbar.

Die Zukunft des Brexit mitgestalten

In Großbritannien kamen die Ergebnisse vor dem Hintergrund des Rücktritts von Premierministerin Theresa May und des bevorstehenden Wettlaufs um ihre Nachfolge als Vorsitzende der Konservativen Partei und Premierministerin. Die neue Brexit-Partei, die sich für einen "harten" Austritt aus der EU unter den Bedingungen der Welthandelsorganisation einsetzt, erzielte einen beachtlichen Sieg, gewann 32% der Stimmen. Sie beförderte die Konservativen damit mit nur 9% auf den fünften Platz. Die Ergebnisse könnten dafür sorgen, dass die Führung der konservativen Partei eine “No Deal”-Position beim Brexit einnimmt. Die Liberaldemokraten waren der andere große Gewinner der Nacht und belegten mit 20% den zweiten Platz. Sie kämpften unmißverständlich für einen Stop des Brexit. Anti-Brexit-Parteien erzielten zusammen 40% der Stimmen.

Weitere Länder, darunter Griechenland, Österreich, Portugal und Polen, werden in den kommenden Wochen und Monaten erneut zur Wahl gehen. Die Vorzeichen sind klar: Wenn es nicht zu positive Veränderungen kommt, könnten die populistischen Parteien in den kommenden Jahren erstarken.

Der Rückgang der traditionellen Parteien (Mitte-Links und Rechts) und der Wechsel zu "europäischen reformistischen" Parteien und Populisten zeigt, dass die Wähler auf EU-Ebene auf eine Änderung der politischen Prioritäten drängen.

  • Erstens wächst der politische Widerstand gegen die EU-Finanzvorschriften. Die Populisten fordern ein Ende der Sparpolitik. Eine gewisse fiskalische Lockerung in Europa ist bereits im Gange und weitere sollten nicht ausgeschlossen werden.
  • Zweitens hat sich gezeigt, dass der Fokus auf den Klimaschutz vor allem junge Wähler mobilisiert.

Implikationen für Anleger

  • Die Tatsache, dass proeuropäische Parteien nach wie vor die stärkste Kraft im Europäischen Parlament sind, sollte die Finanzmärkte entlasten. Zwar sind die Hürden für die EU-Politik nicht ganz so hoch, wie sie bei einem Erstarken der populistischen Parteien gewesen wären, die politischen Unsicherheiten sind dennoch nicht verschwunden.
  • Die Wahlergebnisse bilden die Grundlage für die politische Agenda Brüssels in den nächsten fünf Jahren. Das betrifft die Bereiche EU-Haushalt und Steuern, Klimapolitik, Migrationspolitik sowie die nächsten Schritte der europäischen Integration. Sie ebnen auch den Weg für den anstehenden personellen Wechsel einiger EU-Spitzenpositionen, wie dem Kommissionspräsidenten, dem EU-Ratspräsidenten und dem EZB-Präsidenten. Die Wahlen für die Besetzung diese Stellen werden ein früher Lackmustest dafür sein, ob wir funktionierende, kooperative Institutionen auf EU-Ebene sehen.
  • Die größten unmittelbaren Auswirkungen der Europawahlen könnten auf die nationale Politik zukommen. Besonders, was den zukünftigen Brexit-Prozess im Vereinigten Königreich, die Regierungsbildung in Spanien und möglicherweise Italien betrifft. Bei letzteren besteht die Gefahr einer vorgezogenen Wahl und eines erneuten Haushaltsstreit mit Brüssel, da die EU-Kommission möglicherweise bereits am 4. Juni 2019 eine Verwarnung bzgl. des italienischen Haushaltsplans ausspricht.
  • Während die länderspezifischen Risiken bereits bekannt sind, dürften die Renditeaufschläge von Staaten am empfindlichsten auf erhöhte politische Unsicherheiten und Ereignisrisiken reagieren, einschließlich kurzfristig angesetzter Wahlen.
  • Der starke Zuwachs für das grüne Lager zeigt, dass Klimawandel und Klimaschutz fest auf der Agenda stehen. Investitionen nach ESG-Kriterien könnten zu einer europäischen Marke für Unternehmen weltweit werden.

1) Der Europäische Rat setzt sich aus Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zusammen

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Coronavirus und Märkte: Eine Einschätzung

von | 06.02.2020

Zusammenfassung

Das Coronavirus dürfte Chinas Konjunktur kurzfristig dämpfen, langfristig halten wir jedoch an unserer optimistischen Einschätzung für das Land fest. Wie wir derzeit die Auswirkungen auf Asien und die Weltwirtschaft beurteilen und was dafür Anleger bedeutet, fassen unsere Experten Neil Dwane (Global Strategist) , Mona Mahajan (US Investment Strategist) und Christiaan Tuntono (Senior Economist, Asia Pacific) zusammen.

  • Chinas Wachstum wurde zuletzt vor allem durch die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung des Coronavirus belastet, die allerdings erforderlich sind, um die Lage unter Kontrolle zu bringen
  • Die chinesische Zentralbank hat bereits gehandelt, um die Konjunktur zu stützen, und wird voraussichtlich weitere Schritte ankündigen
  • Langfristig bietet China nach wie vor beträchtliches Potenzial, auch wenn der Versicherungssektor, der Flugverkehr und der Freizeitsektor in den kommenden Monaten in Mitleidenschaft gezogen werden dürften 
  • Vergleiche zwischen dem Ausbruch des neuen Coronavirus und der SARS-Epidemie in den Jahren 2002/2003 sind gegebenenfalls nicht allzu sinnvoll, weil die Welt heutzutage ganz anders aussieht und China eine andere Rolle spielt als damals
  • Unseres Erachtens wird das Virus deutlich geringere Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben als auf Chinas Konjunktur. Allerdings könnten Lieferkettenprobleme zu Druck auf die wirtschaftlichen Fundamentaldaten führen, die sich zwar verbessert haben, aber immer noch anfällig sind1

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